Felicia Zeller – Kaspar Häuser Meer
Theater an der Winkelwiese Zürich 2010
Regie: Stephan Roppel
Bühne und Kostüme: Petra Straß
Licht: Michael Omlin
Technik: Stefan Marti/ Michael Omlin
Dramaturgie: Fanti Baum
Fotos: Judith Schlosser
Ohnmacht versinnbildlichen
Dunkle Schatten haben sie unter den Augen. Die drei Sozialarbeiterinnen Barbara, Silvia und Anika befinden sich am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihr Arbeitskollege Björn fällt aus, was auf der Abteilung Kindsmissbrauch des Jugendamts irgendeiner Stadt zu «Björn-out-Syndromen» führt. Nun folgen 90 Minuten humorvoll-rasantes Theater über ein todernstes Thema. Der kryptisch wirkende Titel «Kaspar Häuser Meer» des Bühnenstücks der deutschen Autorin Felicia Zeller ist so etwas wie eine Steigerungsform. Gemeint ist ein Häusermeer voller Kaspar-Hauser-Kinder. Heutzutage heissen sie zum Beispiel Kevin. Zwischen Papierstapeln rattern die routinierte Barbara (Vivianne Mösli), die alkoholkranke Silvia (Franziska Dick) und die Rabenmutter Anika (Andrea Schmid) 13 Kapitel oder «Fälle» hinunter. Es ist beeindruckend, wie sie Wortsalven über schwierige Schicksale wie Akten hastig aufeinanderstapeln und so die Ohnmacht versinnbildlichen. Dazwischen scheinen die Tragödien der Frauen auf. Barbara wünscht sich schliesslich eine Bach-Kantate für Sozialarbeiter, eine «O lass mich in Ruhe, Welt»-Hymne. Am Ende ist die ersehnte Ruhe da, eine bedrohliche Stille, die sich durch begeisterten Applaus verflüchtigt.
Katja Baigger NZZ 30. Januar 2010
Drei Jugendsozialarbeiterinnen stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Die Schweizer Erstaufführung des Stücks von Felicia Zeller leuchtet ins Innenleben einer überforderten Branche.
Was wir im Kleintheater in der Villa Winkelwiese voyeuristisch bewundern, ist die absurde Professionalität, mit der die Sozialarbeiterinnen Anika, Barbara und Silvia, sprachvirtuos interpretiert von Andrea Schmid, Franziska Dick und Vivianne Mösli, in einem Jugendamt ihren Dienst verrichten. Dieser penetrante Jargon, heruntergeleiert bis zur Hysterie, gespickt mit Ausdrücken von der Gasse! Diese berufstypische Mimik, die innert Sekundenbruchteilen von empathischem Bedauern in pädagogische Strenge wechselt!
Heillos überfordert
Wir haben es mit Menschen zu tun, deren Beruf sie innert weniger Jahre an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Wiedergeboren in eine Gesellschaft, in der ein Mensch schon vor seiner Geburt zum Sozialfall prädestiniert ist, wäre Sisyphos heute womöglich eine Sozialarbeiterin. Nur: Wie sich der gesellschaftliche Druck auf das Innenleben dieser Berufsleute auswirkt, wird in der medialen Fixierung auf Themen wie Kindsvernachlässigung oder Jugendgewalt gern ausgeblendet. In «Kaspar Häuser Meer» verschiebt die 35-jährige Autorin Felicia Zeller den Fokus weg von den fotogenen Strassen im Problemquartier hinein in die traurigen Büros der Jugendämter. Wie genau sie dabei hinter die Kulissen der zeitgenössischen Sozialarbeit blickt und horcht, beweist der grosse Erfolg, mit dem das Stück von Zeller auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wird.
Adrian Riklin WOZ 04. Februar 2010
Im Laufrad
Eine junge Mutter steckt ihrem halbjährigen Sohn eine unangezündete Zigarette in den Mund, macht ein Foto und stellt es auf Facebook. Ein User erstattet Anzeige wegen «Vernachlässigung der Aufsichtspflicht». Ein Mitarbeiter des Jugendamtes muss sich darum kümmern, findet keinen Hinweis, geht unverrichteter Dinge zurück - wohl ins Büro, um Berichte zu schreiben. Auf Facebook schimpft die aufgebrachte Mutter vor sich hin.
«Kaspar Häuser Meer» entstand als Auftragsarbeit des Theaters Freiburg zum Thema Kindsmissbrauch. Die Autorin näherte sich ihm aus der Perspektive überforderter Sozialarbeiterinnen und umschiffte damit gekonnt die Gefahren des Sozialkitsches. «Kaspar Häuser Meer» ist ein musikalisches Stück, sprachgewaltig und ausgeklügelt, mit einem satirischen Potenzial, das auf der Bühne weit besser zur Geltung kommt als bei der Lektüre und schon mehrfach ausgezeichnet wurde.
Isabel Hemmel Züritipp 27. Januar 2010