Dennis Kelly – Waisen
Theater an der Winkelwiese Zürich 2012
Regie: Stephan Roppel
Ausstattung: Petra Straß
Licht: Michael Omlin
Fotografin: Judith Schlosser
GEWALT UND GUTMENSCHENTUM IN DENNIS KELLYS «WAISEN» Es tut so, als seis eine klassisch komödiantische Zimmerschlacht, Dennis Kellys Drama «Die Waisen»: Zu sehen gibts einen Esstisch, ein arriviertes Paar und den Versager-Bruder der Frau. Und doch war «Orphans» das Stadt- beziehungsweise Festivalgespräch, als es am Edinburgh Fringe 2009 uraufgeführt wurde. Wieso, kann man jetzt noch einmal in Zürich erleben: Der psychologisierende Inszenierungsstil von Stephan Roppel, die Intimität des Winkelwiese-Kellers, das intensive Spiel von Andrea Haller, Christian Kerepeszki und Christoph Rath und dieses faszinierende Diskussionsdrama über Gewalt und Gutmenschentum gehen eine Verbindung ein, die man schlicht glücklich nennen muss. Wie die Protagonisten sich und die andern unglücklich machen, ist da so kraftvoll gezeichnet, dass man am liebsten grad mitdiskutieren würde.
Zugegeben: Ein wenig moralinsauer ist «Die Waisen» schon. Der 1968 geborene Londoner Dramatiker führt vor, wie ein linksliberaler Intellektueller von Frau und Schwager dazu überredet wird, einen Araber zu foltern und ein schweres Verbrechen zu decken: Das Monster steckt in uns allen. Gleichzeitig kratzt Kelly am Lack einer Gesellschaft, in der schon manche Kinder so kaputtgemacht sind, dass sie nichts können als andere kaputtzumachen. Raths Liam war ein solches Kind. Jetzt ist er ein zitternder, zorniger junger Mann, der jedem Bärtigen aufs Maul haut. Seine Schwester verschliesst davor die Augen und öffnet den Mund zum manipulativen Redeschwall, vor dem alle kapitulieren. Auch wir. Das ist zwar simples Theater, aber mit Sog. Selten hat in der Winkelwiese alles so gut gepasst.
Alexandra Kedves, Tages Anzeiger, 23.1.2012
DER MENSCH IST EIN ABGRUND Ein Theaterabend, der spannender ist als jeder Krimi: In seinem raffinierten Dreipersonenstück «Waisen», gespielt im Theater Winkelwiese in Zürich, wirft Dennis Kelly einen schonungslosen Blick in (zwischen-) menschliche Abgründe.
Das hätte solch ein romantischer Abend werden können. Der fünfjährige Shane ist bei den Grosseltern untergebracht, der Tisch festlich gedeckt für zwei Personen. Helen trägt ein Abendkleid mit passendem Jäckchen. Danny eine Krawatte unter dem Pullover. Schliesslich haben die beiden auch allen Grund zum feiern: Vor einer Woche haben sie erfahren, dass Helen erneut schwanger ist. Auf den Tellern dampfen Pouletschenkel und Basmatireis, der Wein steht bereit. Doch da betritt auf einmal Liam, Helens jüngerer Bruder, den Raum blutüberströmt. Sofort ist allen klar, dass mit Sicherheit nichts wird aus dem Tête-à-Tête.
Grandiose Schauspieler. Mit «Waisen» zeigt das Theater Winkelwiese, nach «Schutt» und «After the End», bereits das dritte Stück des zurzeit auch im deutschsprachigen Raum sehr populären englischen Autors Dennis Kelly.
Stephan Roppel, künstlerischer Leiter der «Winkelwiese», hat das 2009 in Edinburgh uraufgeführte Psychodrama in einem schlichtestmöglichen weissen Raum (Ausstattung: Petra Strass) inszeniert und mit einem grandiosen Schauspielertrio. Christoph Raths Liam ist im Grunde genommen ein grosses Kind: sprunghaft und widersprüchlich in Denken und Reden, bald trotzig und stur, dann wieder von entwaffnendem Charme. Bereits ganz am Anfang, wenn der schlaksige junge Mann blutüberströmt im Raum herumzappelt, spürt man, dass er den frühen Tod der Eltern nie überwunden hat.
Ganz anders seine große Schwester Helen, gespielt von Andrea Haller: Sie wirkt betont vernünftig und erwachsen. Ihr oft zusammengekniffener Mund lässt jedoch schon bald erahnen, dass auch sie das in der Vergangenheit Erlebte nur mit viel Willenskraft «unter dem Deckel» hält. Christian Kerepeszki schliesslich, in der Rolle des Danny, macht im Laufe des Stücks einen bemerkenswerten Wandel durch: vom offenen, liebenden Ehemann und Vater zum totalen menschlichen Wrack. Die tragischen Ereignisse lassen ihn am Schluss der Aufführung um mindestens zehn Jahre älter aussehen.
Tickende Zeitbomben. Was genau sich zwischen den drei Figuren in gut anderthalb hochdramatischen Stunden abspielt, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Nur so viel: Es gelingt Dennis Kelly auf eindrücklichste Weise, aufzuzeigen, wie unverarbeitete Ereignisse aus der Vergangenheit jederzeit und aus geringstem Anlass ihre zerstörerische Wirkung in der Gegenwart entfalten können. So sind die Bande zwischen den einstigen Waisenkindern Helen und Liam, geschmiedet aus gemeinsamem Leiden, um ein x-Faches stärker als Helens Verbindung mit Danny. Ja sie sind derart stark, dass sie den gesunden Menschenverstand der jungen Frau komplett ausser Kraft setzen und sie sogar dazu bringen, ihren Mann zu einer barbarischen Tat zu drängen.
Anne Suter, NZZ, 23.1.2012
TRIALOG DES GRAUENS Die Premiere am Samstag von Dennis Kellys Kammerstück «Waisen» in der Zürcher Winkelwiese zeigt, wie wenig es für grosses Theater braucht: drei exzellente Schauspieler, einen starken Text, eine punktgenaue Regie.
Der britische Autor Dennis Kelly ist auch im deutschsprachigen Raum kein Unbekannter mehr. 2009 wurde der Autor mit Jahrgang 1968 von «Theater heute» als bester ausländischer Autor ausgezeichnet; am Theater Basel wurden viele seiner Stücke erstmals in Deutsch aufgeführt. So im Jahre 2010 auch das 2009 entstandene «Waisen» («Orphans»), das Theaterleiter Stephan Roppel jetzt im Theater Winkelwiese inszeniert
Gestörte Idylle. Diese besteht lediglich aus einer weißen Fläche, die in leichter Rundung nahtlos in die ebenfalls weiße Rückwand übergeht. Dazu zwei Stühle und ein Tisch, gedeckt für ein intimes Abendessen zu zweit (Ausstattung: Petra Strass). Hier sitzen Helen und Danny bei Huhn und Reis und einer guten Flasche Wein. Ihr fünfjähriger Sohn Shane ist bei der Grossmutter. Das Paar hat Grund zum Feiern: Helen erwartet ihr zweites Kind .Doch die traute Zweisamkeit wird abrupt und nachhaltig gestört von Liam, der plötzlich mit blutverschmierten Hemd da steht. Es ist Helens Bruder, der in rechtsradikalen Kreisen verkehrt. Der schon als Junge die Geschwister wuchsen als Waisen auf einen Hang zu Gewalttätigkeit zeigte und immer schon ein «Pechvogel» war, wie Helen sagt. Er zittert am ganzen Leib und berichtet von einem Jungen, den er verletzt auf der Strasse gefunden habe. Er verstrickt sich jedoch zunehmend in Widersprüche, sodass sein Gefasel Stück für Stück, Satz für Satz seine eigene grausige Tat enthüllt. Anzeige? Zivilcourage? Nächstenhilfe? Mittäterschaft? Loyalität gegenüber Familienangehörigen? Schweigen, Wegschauen, Nichtstun? Sich auf den heilen Kosmos innerhalb der eigenen vier Wände beschränken oder der Blick hinaus in die schmutzige Welt riskieren, wo schon mal «tote Katzen herumliegen»?
Psychothriller. Helen und ihr Mann sind gefordert. Und wir, die Zuschauer mit ihnen. Kelly gibt weder Antworten noch bewertet er. Vielmehr setzt er uns einem Trommelfeuer von Sätzen besser von Halb- und Viertelsätzen aus, die in bester Psychothriller-Manier die Schraube zudrehen und uns vor unangenehme Fragen stellen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen nachvollziehbarer Nestliebe und kaltem Egoismus? Dem dichten Text entspricht ein hochkarätiges Schauspielertrio. Christoph Rath gibt die schillernde Figur des Liam mit einer faszinierenden Mischung von Unterwürfigkeit, Drang nach Anerkennung und zynischer Brutalität. Seine fahrige Gestik, seine verrutschte Mimik finden ihre Entsprechung in der schlecht sitzenden Jeans, die er immer wieder in sinnloser Hektik hochzieht. Andrea Haller als Helen verteidigt den zwielichtigen Bruder wider besseres Wissen und muss dabei auch ihre dunkle, erschreckend menschenverachtende Seite entdecken, die sie mit hyperventilierender Schrillheit oder stummer Panik zu kaschieren sucht. Auch Christian Kerepeszki, Ton-in-Ton gekleidet und scheinbar vernünftig, muss erkennen, dass sein sorgsam gezimmertes Gutmenschentum nicht ausreicht, ihn selbst vor schlimmsten Entgleisungen zu bewahren. Ein Abend, der unter die Haut geht!
Bruno Rauch, Schweizer Feuilletondienst, 23.1.2012